von Daniel Stutz
Behindert sein oder behindert werden - eine Frage der Perspektive
Was «Behinderung» heisst, hat sich im Lauf der Zeit geändert. Der Begriff «Ableismus» gibt diesem Bedeutungswandel nochmals neuen Schub.
Bewegung und Begegnung - TIXI ermöglicht beides.
Definition und Modelle
Je nach Blickwinkel bestehen unterschiedliche Modelle zur Definition des Begriffs von Behinderung. Die juristische Definition legt das medizinische Modell zugrunde. Es definiert Menschen mit einer bleibenden und dauerhaften organischen Beeinträchtigung oder funktionellen Einschränkung (Seh-, Geh-, Sprechvermögen etc.) als behindert. Ein juristischer Massstab kann die ganze oder teilweise Erwerbsunfähigkeit sein. Gesprochen wird von einem Gesundheitsschaden, der entweder die Folge eines Geburtsgebrechens, einer Krankheit oder eines Unfalls ist.
Als Reaktion auf das medizinische Modell, das aus der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen stammt, entstand in den 1960er Jahre im Umfeld verschiedener Behindertenbewegungen eine soziale Sicht von Behinderung mit einem entsprechenden Modell. Es betrachtet die Behinderung als Ergebnis einer Gesellschaft, die die Besonderheiten ihrer Mitglieder unzulänglich berücksichtigt.
Eine Behinderung wird zum Teil von einer Gesellschaft mitkonstruiert. Sie wird zum einen mitbestimmt von den Erwartungen, die eine Gesellschaft an ihre Mitglieder stellt und zum anderen von dem Urteil über diejenigen, die diesen Erwartungen nicht entsprechen können.
Das bringt der Begriff Ableismus (von Englisch: able = fähig) auf den Punkt. Er bezeichnet die Perspektive von Menschen ohne Behinderung und markiert Behinderte als "die Anderen", die dann ungleich behandelt, stereotypisiert oder für minderwertig gehalten werden. Er ist also gleichbedeutend mit Behindertenfeindlichkeit.
Immer noch «schlimmer als die Pest»
Das zeigt sich in Erfahrungen, die Menschen mit einer Behinderung und deren Angehörige machen und zum Beispiel auf Twitter austauschen.
Krassie, Lady of the flies, Mutter eines Sohnes mit einem Handicap schreibt: «Dass mein Sohn im Restaurant manchmal keine Speisekarte bekommt, weil davon ausgegangen wird, dass er eh nicht lesen kann.»
Oder Anna Spindelndreier, Fotografin: «Wenn vor Ort meinem Fotoassistenten der Job erklärt wird und nicht mir – der FOTOGRAFIN!.»
Michel Arriens schreibt: «Dass ich ein fiktiver Zwerg, ein Gnom, ein Liliputaner bin, kein kleinwüchsiger Mensch mit Bedürfnissen, Träumen und Rechten.»
Sieglinde Welz: «Ich besuchte meine Schwester, nach der Geburt von Kind 2, im Krankenhaus. Als ich ihn nehmen wollte meinte sie, ich solle ihn nicht anfassen. Er würde sonst wie ich. Meine Behinderung ist schlimmer als die Pest. Auch nach 30 Jahren tut das immer noch weh.»
Miauzelot: «Dass anscheinend nur Behinderungen, die man sehen kann ‘’echt’’ sind. Alles andere ist mangelnde Disziplin (Erwachsene) oder Erziehung (Kinder) und man müsste sich nur mal richtig anstrengen oder zusammenreissen.»
Und Ganda schreibt: «Dass es nichts zählt, dass ich irgendetwas gut kann, wenn ich nicht gut kann, was euch leicht fällt.»
Solche Erfahrungsberichte werden unter dem Hashtag AbleismTellsMe auf Twitter veröffentlicht.
Jeder Mensch braucht zur Umsetzung seiner Fähigkeiten Hilfe und Unterstützung. Ob mental oder körperlich, ob handicapiert oder gesund. Wir Menschen sind soziale Wesen, die ohne Unterstützung von anderen Menschen krank werden. Dieser Tatsache müssen wir uns bewusst werden, wenn wir über Behinderung anderer Menschen sprechen, oder wenn wir mit ihnen zusammenkommen.
Kontakt baut Vorurteile ab
Gian Reto Baur im Radiostudio
TIXI Zürich, als Fahrdienst für Menschen, die in ihrer Mobilität eingeschränkt sind, setzt sich seit der Gründungszeit vor 37 Jahren stark mit dem Thema Behindertenrechte auseinander. Behindertenrechte sind nichts anderes als Menschenrechte. Humanrights.ch schreibt dazu: «Das Ziel ist der volle Genuss der grundlegenden Menschenrechte durch behinderte Menschen und deren aktive Teilnahme am politischen, wirtschaftlichen, sozialen und kulturellen Leben.»
Dabei verfolgen wir von TIXI zwei Schwerpunkte. Einerseits ermöglichen wir Menschen die handicapiert sind, Mobilität und damit ein Stück Freiheit. Mobilität bedeutet aktiv, unabhängig und selbständig zu sein. Je mobiler ein Mensch ist, umso leichter ist es für ihn, soziale Kontakte zu pflegen. Mobil zu sein, bedeutet auch unabhängig zu sein. Also hinsichtlich der politischen, sozialen Stellung oder seiner Handlungsfreiheit nicht von jemandem abhängig zu sein. Das ist ein wichtiger Schritt, um seinem Leben, unabhängig von anderen Menschen und deren Meinungen, eine gute Richtung zu geben.
Andererseits bringen wir seit Jahrzehnten verschiedene Menschen zusammen. Alleine in den vergangenen 10 Jahren waren bereits über 1200 FahrerInnen bei TIXI Zürich tätig. Menschen mit völlig verschiedenen Hintergründen, Erfahrungen und Prägungen. Durch den Kontakt, den diese Menschen mit unseren Fahrgästen aufbauen, werden sehr viel Vorurteile gegenüber handicapierten Menschen abgebaut. Es entsteht sozusagen eine Gegenbewegung zum Ableismus.
Für viele unserer FahrerInnen wurden unsere Fahrgäste zu lieb gewonnen Menschen. Erfahrungen werden ausgetauscht die sichtlich bewegen und Erfahrungen werden gesammelt, die das Leben der jeweiligen FahrerIn nachhaltig prägen.
Doch auch unsere Fahrgäste profitieren im sozialen Bereich von den Erfahrungen unserer FahrerInnen. Es entsteht eine wechselseitige Beziehung, die auf Vertrauen aufgebaut ist. Auf dieser Basis haben schon viele FahrerInnen eine erweiterte Hilfe für unsere Fahrgäste angeboten. Es ist eine Hilfe, die gerne angenommen wird. Denn behindert sein, heisst oft auch isoliert zu sein.
Wir sind stolz darauf, in diesem Bereich Menschen zusammen zu bringen, Möglichkeiten zu bieten um Vorurteile abzubauen und im Sinne der Menschenrechte zu handeln. Denn jeder Mensch hat das Recht auf Leben, Freiheit, Anerkennung und Sicherheit.
Teamgeist wecken - Gianmarco und Diego am internatiolanen Rollstuhlbasketballturnier
Text: Daniel Stutz, Ann Walter, Erich Wyss